Hai-Definition

Unglaubliche Aufnahmen in Slow-Motion!


Der Weisse Hai frisst nicht jeden

In den letzten Monaten gab es allein an der australischen Küste fünf tödliche Hai-Angriffe. Reiner Zufall, sagt Experte Dr. Erich Ritter. Denn Menschen stehen nicht auf seinem Speiseplan.


Es ist der Job eines Kriminalkommissars: Erich Ritter, Hai-Biologe aus der Schweiz, wertet Hai-Angriffe aus. Er misst Bissspuren, befragt das Opfer nach Situation, Zeit und Ort. Und manchmal, wenn von dem Opfer nichts mehr übrig ist, befragt er Zeugen oder Hinterbliebene. Erich Ritter ist die weltweit anerkannte Koryphäe für Haie, die Menschen angreifen. Die US-Regierung verlässt sich auf seine Expertise, genau wie die Behörden in Ägypten oder Australien. Als Chefwissenschaftler des "Global Shark Attack File" in Princeton, New Jersey, hat er mehr Bisswunden von Haien begutachtet, als irgendein Mensch auf der Welt - und mehr Horrorgeschichten gehört, ähnlich denen des "Der Weisse Hai"-Autors Peter Benchley. Geschichten vom riesigen Geschöpf, das aus der Tiefe kommt, kraftvoll zubeisst mit Zähnen, die in bis zu sieben Reihen stehen.

Die Zahl der weltweiten Hai-Unfälle ist statistisch ein Nichts, verglichen damit, wie viele Millionen Menschen jedes Jahr im Meer baden. Trotzdem geschieht manchmal das höchst Unwahrscheinliche wie vor zwei Jahren in Ägypten, wo innerhalb von 24 Stunden zwei Menschen von Weissen Haien angegriffen und gefressen wurden. Und vor wenigen Tagen an der Westküste Australiens, wo ein Weisser Hai einen Surfer zerfetzte und verschlang. Es war der fünfte Unfall mit einem Weissen Hai an der Westküste Australiens innerhalb von zehn Monaten. Normalerweise stirbt in ganz Australien durchschnittlich ein Mensch im Jahr nach einem Hai-Angriff.

Immer wenn es zu solch einer Häufung von Unfällen kommt, ist es ein paar Wochen lang wieder wie in Benchleys Buch: Panik an den Stränden, Schlagzeilen in Tageszeitungen, Unruhe bei den Tourismus-Behörden - und der Aufruf, die Jagd auf das Lieblingsmonster des Menschen zu eröffnen. Auch die australischen Behörden überlegen nun, den Weissen Hai wieder zum Abschuss freizugeben. Seit 1992 darf er offiziell nicht mehr gejagt werden. Experten spekulieren, dass sich seitdem seine Zahl in den Weltmeeren vervielfacht habe, aktuelle Statistiken, die einen solchen Zuwachs belegen, gibt es allerdings nicht.

Für Erich Ritter wäre die Nachricht, dass sich die Bestände des Weissen Hais erholt haben, die erste frohe seitdem Artenschützer ihn im Jahr 2000 auf der roten Liste als "gefährdet" einstuften. "Man muss", sagt Ritter, "endlich akzeptieren, dass der Weisse Hai das klügste Raubtier der Welt ist und das wichtigste im Ozean."

100 verschiedene Angriffstrategien des Tieres hat der Forscher inzwischen dokumentiert. Und auch sich selbst hat Ritter in seine Sammlung der Hai-Attacken aufnehmen müssen. Seit dem Angriff eines 3-Meter-Exemplares auf den Bahamas fehlt ihm die rechte Wade. Seine nahezu besessene Faszination des aggressivsten, gefährlichsten Raubfisches der Meere hat das nicht mindern können.

Von den etwa 400 Haiarten, die die Wissenschaft kennt, ist Ritters Lieblings-Hai allerdings eher ein kleiner Fisch. "Wadenbeisser" nennt er ihn, den Schwarzspitzenhai, nur etwa 200 Kilo schwer, intelligent und eher verspielt - aber ebenso tödlich und unter Tauchern für seine Unberechenbarkeit berüchtigt.

Welt am Sonntag: Auf den Bahamas hat Sie ein Hai lebensgefährlich verletzt. Ein ganz normaler Arbeitsunfall?

Ritter: Ich bin schon oft gebissen worden. Aber der Hai von 2003 hätte mich tatsächlich fast umgebracht. Schuld war ich selbst, mehrere Fehler, die mir heute nicht mehr unterlaufen würden. Wenn wir zu Haien ins Wasser gehen, bleibt stets jemand draussen, der die Tiere im Blick behält. Auch damals stand jemand parat, der plauderte allerdings mit den anderen am Ufer. Ich stand bis zum Bauch im Wasser, um mich herum schwammen mehrere Bullenhaie. Die behielt ich im Auge. Nur das Weibchen, das sich mir von hinten näherte, konnte ich nicht sehen. Jemand warf Futter ins Wasser, da beschlich mich das Gefühl, dass die Situation kippen könnte. Plötzlich dann dieser Schmerz im Bein. Der Hai hat mich gepackt und zerrte mich ins tiefere Wasser. Ich langte nach seinen Kiemen ...

Welt am Sonntag: Seine empfindlichste Stelle?

Ritter: Mit einem beherzten Griff in die Kiemen vertreibt man jeden Hai, auch den Weissen. Doch ich erwischte sie nicht. Also entriss ich ihm mein Bein - was mich fast das Leben gekostet hätte.

Welt am Sonntag: Das sagt einer, der im Rachen eines Haifischs steckte ...

Ritter: Wenn ein Hai beisst, dann nicht, weil er Hunger hat. Haie jagen keine Menschen, wir stehen nicht auf ihrem Speiseplan. Wir sind lediglich ein unbekanntes Objekt, das sie erkunden wollen. Meinem Hai stand ich im Weg, deshalb schnappte er zu. So hätte er auch andere Haie vertrieben. Der Biss allein wäre nicht gefährlich gewesen. Bis zu 100 Menschen werden jährlich von Haien verletzt, meist handelt es sich um oberflächliche Kratzspuren und Bisse, ohne dass die Betroffenen ins Krankenhaus müssen. Nur sieben bis zwölf Unfälle enden tödlich. Sehr häufig, weil die Betroffenen ihre Gliedmassen aus dem Maul ziehen wollen. Die scharfen Zahnreihen hinterlassen dann schwere Verletzungen. Die Opfer verbluten - oft auch, weil die Hilfe auf sich warten lässt. Das hätte mir auch blühen können. Bis ich im Krankenhaus lag, dauerte es zwei Stunden.

Welt am Sonntag: Der tut ja nichts, der erkundet ja nur. So etwas sagt sich so schön ...

Ritter: Ich bin mehr als fünftausend Haien begegnet - keiner war aggressiv. Haie sind neugierig. Wenn ein Mensch sie interessiert, stupsen sie ihn an - und testen das seltsame Wesen im Wasser mit einem sanften Gaumenbiss. Sie drücken nur die Kiefer an, dort wo die Geschmacksknospen sitzen. Der Hai ist keine Fressmaschine, sondern ein komplett missverstandenes Tier. Das schönste Tier der Welt - und vielleicht auch das klügste.

Welt am Sonntag: So spricht ein Verliebter ... welcher Hai hat es Ihnen besonders angetan?

Ritter: Der Weisse Hai ist schon fast langweilig. Nicht allzu verspielt, eher behäbig. Wenn man Spass mit ihm haben will, kann man sich an seine Schwanzflosse hängen, viel mehr ist nicht drin. Meine Lieblinge sind die Schwarzspitzenhaie. Die treten meist als Gang auf - und manchmal lasse ich sie in meinen Taschen nach Futter suchen.

Welt am Sonntag: In Australien sind in zehn Monaten fünf Menschen gestorben. Reiner Zufall?

Ritter: Ja. So tragisch es klingt. Es gibt keine Tendenz, die Unfälle mit Haien haben nicht zugenommen. Manchmal gibt es eine unglückliche Verkettung von Zufällen. Bei Ebbe etwa schwimmen Haie sehr oft im flachen Wasser. Würde man dann den Strand sperren, wäre viel für die Sicherheit getan. Viele Unfälle geschehen, wenn Haie fressen - und der Mensch dazwischengerät. Dann fühlen sich die Tiere bedrängt, wollen ihr Revier verteidigen. Haie abschiessen zu lassen, ist keine Lösung. Jährlich sterben etwa 80'000 Menschen an Schlangenbissen, aber niemand kommt auf die Idee, die Giftschlangen zu töten. Es wäre auch unmoralisch: der Weisse Hai hat Millionen Jahre Evolution in den Ozeanen hinter sich. Wir dagegen sind im Meer nur Gäste.


© Axel Springer AG 2012. Alle Rechte vorbehalten.